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The Jasper House - The Blog

Unser Blog gibt Ihnen Einsichten in die Welt der Psychologie und in unterschiedliche Techniken der Psychotherapie. Darüber hinaus möchte er Ihnen beim Aufbau Ihres Ressourcenmanagements behilflich sein.
von Claus Scheitler 14. Mai 2023
Das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit nach Seligman - (Semiarunterlage) Ätiologie und Therapie Martin E. P. Seligman, Professor für Klinische - und Sozialpsychologie an der Universität Pennsylvania führte im Jahre 1975 bahnbrechende Untersuchungen durch, aus denen sein Konzept der Erlernten Hilflosigkeit entstand. Auch wenn seine grundliegenden Erkenntnisse fast fünfzig Jahre alt sind, bereitete er mit ihnen ein wissenschaftliches Terrain vor, welches heute aktueller denn je ist. Seligman erkannte, dass Situationen, in denen der Mensch keine Fähigkeit hat, etwas zu bewirken und somit weder Kontrolle noch Gestaltungsmöglichkeit über sich bzw. eine ihn betreffende Situation hatte, zu einer Hilflosigkeit führen, aus der in einem späteren Stadium Depressionen, Ängste und Apathie folgen. Die Kausalität Unkontrollierbarkeit > Hilflosigkeit > Trauer (Depression, Angst …) mag unspektakulär einfach erscheinen, es steckt jedoch etwas wesentlich Größeres dahinter. Da dies keine wissenschaftliche Abhandlung sein soll, möchte ich Sie nicht mit den Einzelheiten seines Versuchs, mit „triadischem Aufbau“, „Pavlov-Geschirr“ oder „Shutter-Box“, langweilen. Deshalb gebe ich Ihnen hier nur eine stark vereinfachte Darstellung. Seligman versetzte Hunden leichte Stromschläge, die sie durch kein Verhalten verhindern konnten. Einer zweiten Gruppe von Hunden versetzte er ebenfalls Stromschläge. Diese Hunde konnten jedoch durch ein bestimmtes Verhalten die Schläge beenden. Nach einigen Tagen veränderte Seligman das Experiment dahingehend, dass er einzeln die Hunde in eine Box setzte, die aus zwei Bereichen bestand. Beide Bereiche wurden durch eine halbhohe Wand abgetrennt, welche der Hund leicht überwinden konnte. Der Boden bestand aus Metallplatten, durch welche der rechte Teil der sogenannten Shutter-Box unter Strom gesetzt werden konnte. Der Hund konnte den Stromschlägen durch einen Sprung über die Trennwand entkommen. Von den Hunden, die im ersten Versuchsaufbau gelernt hatten, die Stromschläge zu verhindern, nahmen alle die Möglichkeit wahr und sprangen in den linken - stromlosen - Teil der Box. Von der Gruppe der Hunde, die hilflos konditioniert wurden, nahmen weniger als 20% diese Möglichkeit wahr. Die meisten dieser Hunde ließen die Stromimpulse wimmernd über sich ergehen . Ähnliche Versuche machte Seligman mit Ratten und abschließend mit Menschen. Hierbei ersetzte er die Stromschläge durch die Möglichkeit, eine starke Lärmbelästigung zu beenden. Seligman formulierte nun folgende These: Aufgrund häufiger Erfahrung von Unfähigkeit, bestimmte Ziele zu erreichen oder einen bestimmten Umstand zu ändern, entwickelt der Mensch die Überzeugung, hilflos zu sein. Diese Hilflosigkeit manifestiert sich zu einer Depression. Erfährt ein Mensch häufig und/oder über eine längere Zeit das Gefühl, Angelegenheiten in seinem Leben nicht beeinflussen zu können, so entwickelt er einen immer stärker werdenden Verlust von Kontrolle und daraus Hilflosigkeit. Bleibt die Situation, so entwickeln sich drei Störungen: „die Motivation zu aktivem Handeln wird erschöpft, die Fähigkeit, Erfolge wahrzunehmen, wird gestört und die Tendenz zu emotionalen Reaktionen wird gesteigert“. Erlebt man die traumatische Erfahrung einer starken Hilflosigkeit, entsteht als primäre Reaktion FURCHT. Wenn dieser Zustand andauert oder auch wenn er sich ähnlich wiederholt, können zwei Möglichkeiten eintreten. Entweder lernt der Traumatisierte die Bedingungen zu kontrollieren - wodurch die Furcht abgebaut wird oder gänzlich überwunden wird oder „wenn das Individuum auf die Dauer lernt, dass es die traumatische Bedingungen nicht kontrollieren kann, wird die Furcht … durch [eine] DEPRESSION ersetzt“ . Seligman beschreibt die Symptome dieser Depression mit „Entschlusslosigkeit, Handlungsunfähigkeit, steigende Anforderungen an Andere und Gefühlen der Wertlosigkeit und Schuld angesichts nicht erfüllter Pflichten“ . Das definierende Charakteristikum sieht er - ebenso wie Philip Lichtenberg - in der Hoffnungslosigkeit . Schließen wir diese - nur an der Oberfläche von Wissenschaft kratzende - Einführung in die Theorie Seligmans mit seiner eigenen Zusammenfassung ab: „Die Erwartung, dass [die] Konsequenz [einer Handlung] von den eigenen willentlichen Reaktionen [= Handlungen] unabhängig ist, senkt (a) die Motivation, diese Konsequenz kontrollieren zu wollen, interferiert (b) mit der Fähigkeit zu lernen, dass die eigenen Reaktionen die Konsequenz tatsächlich kontrollieren, und – wenn die Konsequenz traumatisch ist – löst (c) diese Erwartung solange Furcht aus, wie das Individuum sich der Unkontrollierbarkeit der Konsequenz nicht sicher ist; danach führt sie zu Depressionen.“ Ätiologie Wie entsteht Erlernte Hilflosigkeit? Welche Gründe könnte es dafür geben so etwas paradoxes zu tun und bereit zu sein, Hilflosigkeit zu lernen? Häufig finden wir sie in der Folge einer restriktiven Erziehung durch ein Elternhaus, in welchem das Kind keine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten hatte. Es erlebte, dass seine Reaktionen auf Situationen des persönlichen Lebens keine Konsequenzen hatten. Das Kind verspürte somit eine immer geringer werdende Motivation zu eigenem Handeln. Auch eine Erziehung, die durch Vernachlässigung, Willkür oder Unterdrückung (auch z.B. durch Geschwister) geprägt sind, können diese Folgen auslösen. Die Liste ist jedoch wesentlich länger, hier ein paar Beispiele: Hilflosigkeit kann durch eine Abfolge von persönlichen Misserfolgen entstehen, wie z.B. - durch einen häufigen Arbeitsplatzverlust - ein gescheitertes Start-Up - mehrere zerbrochene Partnerschaften - ein Leben im sozialen System mit einem destruktiven Partner oder mit einem chronisch kranken Partner - eigene chronifizierte Erkrankungen - eine Arbeitswelt mit permanent unzufriedenen Vorgesetzten, Gratifikationskrisen und/oder Mobbing - das Erkennen eines eigenen Expectation-Hangovers oder generell ein Leben „in der Tretmühle“. Aber auch selbstverständliche und somit nachvollziehbare Vorgänge wie das unaufhaltsame Altern oder die Folgen einer Verwitwung, können das lähmende Gefühl einer Hilflosigkeit auslösen. Besonders gravierend sind diese Umstände, wenn sie dauerhaft anhaltend oder zumindest häufig wiederkehrend sind. Darüber hinaus benennt Seligman Vorgänge, in denen die eigene Hilflosigkeit (1.) unabsichtlich selbst herbeigeführt wurde. Dies ist z.B. durch ein häufiges Grübeln über Probleme, ein ständiges Hadern an den persönlichen Lebensumständen und/oder ein permanentes Vergleichen mit Anderen möglich. Hilflosigkeit kann sogar (2.) absichtlich selbst generiert werden. Wie Frankel und Snyder nachwiesen, führt „die Erfahrung von Misserfolg als … Folge von Unkontrollierbarkeit … zu Angst vor [weiteren] Misserfolgen, denen man konsequenterweise nur aus dem Weg gehen kann, wenn man jede weitere Anstrengung vermeidet. Dieser Selbstschutz verhindert einen Zerfall des Selbstwerts, da immer noch die Illusion bestehen bleibt, dass man erfolgreich hätte sein können, wenn man sich nur angestrengt hätte.“ Aber auch einmalige Erlebnisse können traumatisierend sein, wenn sie in einer ausreichenden Stärke und verbunden mit dem Erleben einer starken Ohnmacht aufgetreten sind. Seligman beschreibt in diesem Zusammenhang das Erlebnis eines Jungen, der das kalifornische Erdbeben von 1971 erlebt hat. Die dabei - einmalig - durchlebte Hilflosigkeit prägte den Jungen mehrere Jahre lang. Ähnliche Konsequenzen sind auch bei Kriegserlebnissen und innerfamiliärem Missbrauch beschrieben. Welche gravierenden Folgen auch eine einmalige Konfrontation mit Hilflosigkeit haben kann, wies Curt Richter in seinem Rattenexperiment von 1965 nach . Ich habe es bereits an anderer Stelle beschrieben aber dieses Experiment ist in vielfältiger Weise interessant, deshalb stelle ich es hier noch einmal vor: Richter warf wilde Ratten in ein hohes Gefäß, welches halb mit Wasser gefüllt war und maß die Zeit, die verging, bis die jeweilige Ratte ertrunken war. Anschließend nahm er wieder wilde Ratten und hielt sie so fest in seinen Händen, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten. Nach einer gewissen Zeit, in denen sie heftig versuchten, der Umklammerung zu entkommen, ergaben sie sich der Sinnlosigkeit ihrer Anstrengungen und erkannten ihre Hilflosigkeit und daraus resultierend die Hoffnungslosigkeit, an dieser Situation etwas ändern zu können. Nach einer kurzen Zeit der Erholung, warf Richter diese Ratten, die Hilflosigkeit erlernt hatten, in die Wassergefäße. Er stellte fest, dass diese Ratten für eine erheblich kürzere Zeit als die unbeeinflussten Ratten um ihr Leben kämpften. Richter machte abschließend das Gegenexperiment. Er warf unbeeinflusste Ratten in den Wasserzylinder und legte nach einigen Minuten ein Holzbrett in den Zylinder, auf dem die Ratte für eine kurze Zeit Rettung suchen konnte. Dadurch erlernte sie, dass ihr Kampf um das Überleben einen Sinn hat, da er zum Erreichen einer Rettungsinsel geführt hat. Richter zog dann das Brett wieder heraus und die Ratte setzte ihren Überlebenskampf fort. Bedingt durch die erlernte Hoffnung und das Erkennen einer Kontrollmöglichkeit, kämpften die Ratten wesentlich energischer um ihr Überleben. Die unterschiedlichen Zeiten des Überlebenskampfes waren wesentlich gravierender als sie zu Versuchsbeginn angenommen wurden. Gruppen Überlebenskampf Unbeeinflusste Ratten 10-15 Minuten Beeinflusste Ratten – negativ konditioniert / Erlernt Hilflos 2-4 Minuten Beeinflusste Ratten – positiv konditioniert / Erlernte Hilfe, Hoffnung über 60 Stunden T E S T Testbogen zur Feststellung des Attributionsstils Bitte versuchen Sie sich in die im folgenden beschriebenen Situationen lebhaft hineinzudenken. Anschließend suchen Sie bitte einen für Sie persönlich nachvollziehbaren und für Sie plausiblen Grund, warum die beschriebene Situation so geschehen ist. Schreiben Sie diesen Grund auf einem gesonderten Blatt möglichst detailliert auf. Zwei Punkte, in die Sie sich absolut nicht hineinversetzen können, dürfen Sie streichen, wenn nötig. Lesen Sie auf keinen Fall weiter, bevor Sie diesen Test gemacht haben. Situationen: 1. Sie laufen morgens an Ihrem Chef vorbei, der Ihren Gruß nicht erwidert. 2. Die von Ihnen am Vorabend herausgestellte Mülltonne wurde von der Müllabfuhr nicht abgeholt - im Gegensatz zu denen der Nachbarn. 3. Alle ihre Bewerbungen werden zurückgesendet mit dem Hinweis, dass Sie für die jeweils ausgeschriebene Stelle nicht die erforderlichen Qualifikationen besitzen. 4. Ihr Kind ist nicht in die 10. Klasse versetzt worden und muss die 9. Klasse wiederholen. 5. Der „Tante-Emma-Laden“ an der Straßenecke, in dem Sie so gerne einkaufen, wird zum Monatsende geschlossen. 6. Seit Sie vor zwei Jahren ein neues Auto gekauft haben, mussten Sie dieses bereits fünf Mal in die Werkstatt bringen. 7. In Ihrer Wohngegend wurde in den letzten zwei Jahren drei Häuser / Wohnungen ausgeraubt. 8. Von Ihrer gebuchten Ferienwohnung waren Sie und Ihrer Familie sehr enttäuscht. 9. Sie werden nicht zur Hochzeit Ihres besten Freundes / Ihrer besten Freundin eingeladen. 10. Sie haben eine sehr schlechte Diagnose Ihres behandelnden Arztes erhalten. Psychopathologie Auswirkungen Erlernter Hilflosigkeit Die am häufigsten diagnostizierte Weiterentwicklung von Hilflosigkeit ist die Depression. Dazu Werner Fröhlich: „Erlernte Hilflosigkeit ist ein Zustand negativer Erwartungen, der auf der Einsicht oder Überzeugung beruht, Probleme seien mit den vorhandenen Denk- und Handlungsmöglichkeiten nicht zu lösen. [Es] besteht eine Ähnlichkeit des Zustandsbildes zu Depression, Erschöpfungsdepression und psychischem Stress“. Die signifikanten Symptome sind Apathie, starke Traurigkeit, Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld, sozialer Rückzug, Schlaf- und Appetitstörungen, Verlust von Interesse und Freude. Größtes Problem dabei ist, dass sich der Mensch selbst als das Problem seiner Lebensumstände sieht, die er darüber hinaus als unveränderbar einschätzt. Die vier Defizite Seligman benennt vier Defizite im Verhalten von betroffenen Personen. Erlernte Hilflosigkeit beeinträchtige die Motivation, die Kognition, die Emotion und den Selbstwert. Die motivationalen Defizite zeigen sich im Verlust von aktivem Handeln und Leistungsbereitschaft, da der Hilflose nicht mehr erwartet, dass seine Handlungen irgendeine Auswirkung haben. Die kognitiven Defizite zeigen sich darin, dass Lernprozesse stark reduziert sind, da das Individuum „den Glauben“ verloren hat, noch irgendetwas durch Lernen verändern zu können. Die emotionalen Defizite zeigen sich vor allem in Mutlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit und Angst, wie Fröhlich in seiner Parallele zur Depression bereits beschrieben hat. Da alle drei Defizite das Selbstbewusstsein und das Selbstvertrauen reduzieren, ist als Ergebnis einer Erlernten Hilflosigkeit fast immer ein Verlust des Selbstwerts festzustellen. Bemerkenswert ist, dass auch beim Überwinden der Hilflosigkeit - zum Beispiel, wenn das erwachsene Kind das restriktive Elternhaus endlich verlassen kann - eine Infizierung mit Erlernter Hilflosigkeit erfolgt ist und Ausprägungen in späteren Lebensabschnitten hervortreten können. Auswege aus der Erlernten Hilflosigkeit Kontrolle Das Gegenteil von Hilflosigkeit ist die Kontrolle. An dieser einfachen Aussage setzte Seligman seine Forschungen an. Dazu führte er das Beispiel eines 65-jährigen „Hypochonders“ an, der davon überzeugt war, in Bälde einen Herzinfarkt zu erleiden. Dachte er über diese Option nach, bekam er Angst. Der Blutdruck stieg an, eine körperliche Schwäche machte sich breit, er begann zu schwitzen, die Herzfrequenz stieg an. Da er wusste, dass dies alles Symptome sind, welche die Gefahr erhöhten, tatsächlich einen Herzinfarkt zu bekommen, stiegen diese angstphysiologischen Auswirkungen noch einmal deutlich an > ein Teufelskreis begann, in welchem der Patient völlige Hilflosigkeit empfand. Ein Psychiater verschrieb ihm daraufhin ein Beruhigungsmittel und erklärte, dass dieses Medikament die angstphysiologischen Symptome abstellen würde. Der Hypochonder war sich nun sicher, dass er Kontrolle über die Auswirkungen seiner Angst habe. Die bloße Möglichkeit der Kontrolle reichte dem Mann völlig aus, alle weiteren Angst-schübe ohne Nutzung des Medikaments zu vermeiden oder zumindest zu deckeln. Dazu Seligman: „Die Verringerung von Angst aufgrund vermeintlicher Kontrolle gibt uns eine Einsicht in die Wirkungsweise eines sehr erfolgreichen Verfahrens zur Therapie der Angst.“ Kontrolle löscht aber nicht nur Angst, sie kann uns auch grundsätzlich stärken und unser „Ertragen“ verstärken. Dazu ein weiterer interessanter Versuch. Eine Gruppe von Menschen wurden zu einem Versuch geladen. Es wurde ihnen mitgeteilt, dass man ihre psychogalvanischen Stresssymptome in Verbindung mit dem Ertragen von sehr lauter Musik messen wolle. Tatsächlich ging es um etwas anderes, nämlich um die Untersuchung von Kontrolle. Einer ersten Gruppe spielte man die Musik vor und erhöhte von einem Nebenraum aus, die Lautstärke ohne Rücksprache mit den Probanden. Sie hatten somit keinen Einfluss auf die Lautstärke, waren somit in unserem Sinne „hilflos“ der Lautstärke ausgesetzt. Einer zweiten Gruppe wurde mitgeteilt, dass sie zu jedem Zeitpunkt über einen Knopf die Lautstärke herunterregeln könnten, wenn es ihnen zu laut würde. Die hilf- und kontrolllosen Probanden der ersten Gruppe brachen früh die Untersuchung ab mit dem Hinweis darauf, dass die Musik zu laut und unerträglich sei. Die Probanden der zweiten Gruppe, welche die volle Kontrolle über eine sofortige Beendigung der Sitzung hatten, brachen diese erst wesentlich später ab. Primäres Ziel einer Therapie bei Erlernter Hilflosigkeit ist somit die Genese von Kontrollmöglichkeiten und die Erhöhung von Kontrollstärke. Gegenläufige Tendenzen wie Angst, Perfektionismus, Aufgabe der Comfort-Zone, Faulheit, Bequemlichkeit, Prokrastinieren, müssen überwunden werden. Hierbei ist der wichtigste Punkt die Eigenwahrnehmung. Das heißt, das Sich-bewusst-machen des eigenen Handelns und Reagieren. Sie müssen die sogenannte Lern- und Wachstumszone betreten. I st erlernte Hilflosigkeit überhaupt überwindbar? Die Antwort ist ein klares „Ja“. Denn Sie selbst legen jeden Tag - innerhalb des von Ihnen gesteckten Rahmens - die Grenzen Ihrer Hilflosigkeit neu fest, ohne dass Sie dies bemerken. Seligman stellte folgende Frage: „Da wir alle in gewissem Maße Hilflosigkeit erfahren, warum sind wir dann nicht immer hilflos? Angenommen ich nehme eines Morgens die Bahn, um zur Arbeit zu fahren. Ich sitze hilflos in einem Fahrzeug, dessen Funktionsweise ich nicht richtig verstehe und das von einem Fahrer gesteuert wird, den ich nicht kenne. Trotzdem verhalte ich mich hinterher ganz normal, ohne einen der … Auswirkungen von Hilflosigkeit zu zeigen. Was hat diese Auswirkungen in Schranken gehalten?“ Der Grund ist folgender: Weil sie sich keine Gedanken gemacht haben (oder, wenn doch, waren sie nicht relevant genug für Sie), wirkte dieser Umstand nicht auf sie ein. Und genau so kann es mit allen anderen Umständen Ihres Lebens sein. Kontrollverluste oder Wahrnehmungen von Hilflosigkeit sind stets subjektiv. Sie sind eine eigene Vorstellung, die nicht gezwungener maßen bestehen bleiben muss. (Dies ist ein Teil der Erklärung, warum auch erfolgreiche Manager oder Menschen, die nach außen eine starke Persönlichkeit mit klarem Selbstwert ausgeprägt haben und die sich im Thera-piegespräch als tatkräftig und wirkungsvoll beschreiben, Erlernter Hilflosigkeit unterliegen können. Diese kommt jedoch nur partiell zur Ausprägung und wirkt häufig latent in Form von nicht greifbaren Unsicherheiten, Ängsten oder Zwängen. Auch diese können Hoffnungslosigkeit und in der Folge Depressionen auslösen.) Der hier nur kurz beschriebe Ansatz, Erlernte Hilflosigkeit zu überwinden ist nur einer von dreien. Im Verlauf des Seminars werden Sie weitere Möglichkeiten kennen lernen, die kognitiven Dysfunktionen in Ihrer Psyche zu erkennen und sie zu überwinden. Auswege aus der Erlernten Hilflosigkeit Attributionsstile Eine „Attribution“ im hier verwendeten Sinn bedeutet eine Ursachenzuschreibung. Warum ist etwas auf diese Art und Weise geschehen. Dazu ein Beispiel. Vier Jugendliche, wir wollen Sie einmal Max, Moritz, Paul und Karl nennen, haben eine Mathematikarbeit zurückbekommen. Alle vier Schüler sind in der 5. Klasse des Gymna-siums, sie sind gleich intelligent und hatten die gleichen Voraussetzungen was Vorberei-tung und Durchführung der Arbeit betreffen. Alle vier Schüler haben die Arbeit „verhauen“ und erklären sich nun den Grund ( > Die Attribution) Karl: „Ich bin halt einfach dumm“ Paul: „Ich war bei der Vorbereitung nicht fleißig genug“ Moritz: „Mein Mathelehrer kann Dinge nicht gut erklären“ Max: „Der Baustellenlärm hat mich abgelenkt“ Die verschiedenen Attributionsstile können in vier Gruppen und zwei weiteren Untergruppen aufgeteilt werden. So kann der Grund für das Versagen „internal“, also bei sich selbst gesucht werden (Karl und Paul) oder „external“, also außerhalb der eigenen Verantwortung (Moritz und Max). Darüber hinaus können die Gründe dauerhaft sein (Karl und Moritz) oder vorübergehend (Paul und Max) Die Untergruppe besteht in der Unterscheidung einer allgemeinen Aussage („Ich bin halt einfach dumm“) zu einer spezifischen Aussage („Ich bin halt einfach schlecht in Mathe“) dauerhaft vorübergehend allgemein spezifisch allgemein spezifisch In-ternal Ich bin halt einfach dumm Ich bin halt einfach schlecht in Mathe Ich war nicht fleißig genug Ich war nicht gut auf die Textaufga-ben vorbereitet External Die Lehrer sind gemein Mein Matheleh-rer kann nicht gut erklären Der Wechsel auf das Gymnasium ist anfangs schwierig Der Baustellenlärm hat mich abgelenkt Die unterschiedliche Qualität der acht Aussagen hinsichtlich ihrer Rückwirkungen auf das Selbstbewusstsein ist offensichtlich. Max weist die Verantwortung von sich und führt darüber hinaus das Scheitern auf einen vorübergehenden, ganz spezifischen Umstand zurück, der so nicht wieder vorkommen wird (> external-vorübergehend-spezifisch // blau). Karl hingegen macht sich selbst für das Scheitern verantwortlich und sieht darüber hinaus diesen Zustand als eine grundlegend-allgemeine und dauerhafte Eigenschaft seiner Person an (> internal-dauerhaft-allgemein // grün). Dass Max‘ Optimistischer Attributionsstil eine viel positivere Rückwirkung auf dessen Psyche hat als Karls negativer Attributionsstil, ist offensichtlich. Ein Optimistischer Attributionsstil ist also „die gewohnheitsmäßige Tendenz, das Eintreffen eines Ereignisses auf eine Art zu erklären, die Anlass zur Zuversicht gibt“ . Sicherlich hat ein zu optimistischer Attributionsstil auch negative Auswirkungen z.B. hinsichtlich der Entwicklung von Bewältigungsstrategien oder dem Erkennen ihrer Notwendigkeit. Ein Attributionsstil der so weit geht, dass Sie sich für jegliche Konsequenz Ihres Handelns nicht verantwortlich fühlen, ist schlecht > Der Baustellenlärm hat mich abgelenkt. Das bedeutet für mich > ICH bin für die schlechte Note nichts verantwortlich. Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich eine 1+ geschrieben. Grundsätzlich ist jedoch Folgendes festzustellen: Wer ein Scheitern weniger mit eigenem Unvermögen in Verbindung bringt, wird sich zwar trotzdem über das Nichterreichen eines gesetzten Ziels ärgern, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Zuversicht in der Zukunft bessere Leistungen erbringen zu können, bleibt jedoch erhalten. Es ist also wichtig, zu einem positiven Attributionsstil zu gelangen oder zumindest einen Negativen zu durchbrechen. Nun könnte man meinen, dass dies leicht dahingehend zu erreichen ist, dass man Erfolge sammelt, welche die eigene positive Meinung verstärken. So leicht ist es jedoch nicht. In einer Untersuchung mit zwölf Schulversagern aus zwei Volksschulen in New Haven konnte C. S. Dweck nachweisen, dass es nicht der Erfolg ist, der einen negativen Attributionsstil durchbricht. Vor allem ist es wichtig, das Gefühl von Hilflosigkeit gegenüber dem eigenen Versagen zu durchbrechen, um danach einen positiven Attributionsstil zu generieren. Allen zwölf Kindern war gleich, dass sie im Unterricht, sobald sie an die scheinbaren Grenzen ihrer Fähigkeiten kamen, sofort aufgaben und teilnahmslos den weiteren Unterricht verweigerten. Dweck teilte die zwölf Kinder in zwei Gruppen auf. 28 Tage lang erhielten die Kinder der ersten Gruppe derart leichte Aufgaben, dass sie diese immer mit Erfolg lösen konnten, wofür sie auch reichlich gelobt wurden. Die Kinder der zweiten Gruppe erhielten darüber hinaus jedoch auch Aufgaben, die über ihren Fähigkeiten lagen. Ein Fehler wurde korrigiert mit den Worten: „Die Zeit ist um, du hast nur zwei Aufgaben gelöst, hättest aber drei lösen sollen. Das heißt, du wirst dich noch ein bisschen mehr anstrengen müssen.“ Anschließend wurden die beiden Gruppen wieder vereint und alle Kinder bekamen Aufgaben, die sowohl innerhalb ihres Leistungsspektrum als auch au-ßerhalb davon lagen. Nun könnte man meinen, dass die erfolgsverwöhnten Kinder der ersten Gruppe durch die gute Erfahrung ihres (scheinbaren) Könnens, verstärkt positiv attribuiert waren und län-ger an den schwierigen Aufgaben verblieben, diese ggf. sogar lösten. Dies war aber nicht der Fall. Sobald diese Kinder an eine schwierige Aufgabe kamen, gaben sie, wie früher, sofort auf. Es waren die Kinder der zweiten Gruppe, die ihren früheren Attributionsstil, der sich durch ein schnelles Aufgeben auszeichnete, durchbrachen und wesentlich länger an schwierigen Aufgaben verweilten, diese sogar lösten. Nicht der bloße Erfolg änderte den Attributionsstil der Hilflosigkeit, sondern die Erkenntnis, warum man erfolglos war, dass es in der eigenen Hand liegt, dies zu ändern und wie man dies ändern kann, führte zu Veränderungen in der Selbstwahrnehmung und im Selbstvertrauen. Die klare Begründung des Versagens („Du hättest dich mehr anstrengen müssen“) und die Zuschreibung der Verantwortung dafür auf den Jungen („Du hast die Aufgabe nicht geschafft“), machte diesem klar, dass er eben nicht hilflos ist, sondern das Mittel zum Erfolg in ihm selbst zu suchen ist. Er durchbrach somit die eigene Hilflosigkeit und veränderte darüber hinaus noch seine Kausalattribution. Zusammenfassung Das zu erreichende Ziel des Seminars ist in einem ersten Schritt das Erkennen von Hilflosigkeit und in einem Zweiten ihre Überwindung. Wir müssen die Kontrolle über die maßgeblichen Vorgänge in unserem Leben (zurück-)erlangen. In den Reformulierungen der These Seligmans wies Abramson darauf hin, dass eine Erlernte Hilfslosigkeit alleine noch nicht in die Depression führt. Erst zusammen mit einer Kausalattribution, die negativ ausgerichtet ist - im schlechtesten Fall internal-allgemein-dauerhaft - ergibt sich eine Depression. Somit bestehen zwei generelle Ansatzpunkte, die Kette von Hilflosigkeit bis hin zur Depression zu sprengen. Erstens die Überwindung der negativen Hilfeerwartungen und zweitens die Überwindung eines negativen Attributionsstils.  S C I T O T E I P S U M Scito te ipsum, so nannte Petrus Abaelardus sein 1135 in Paris erschienenes Buch. Erkenne dich selbst, diese Aufforderung ist der maßgebliche Bestandteil jeglicher Therapie, Beratung und jeglichen Coachings. Bestand bei sich selbst aufzunehmen, sich danach zu analysieren und Veränderungen zu erkennen, ist der wichtigste Schritt bei der Reformulierung des eigenen ICH. Wir verändern uns ständig, weil wir täglich Eindrücken ausgesetzt sind, auf die wir reagieren müssen. Dies geschieht in den allermeisten Fällen im Unterbewusstsein. Sie erkennen kaum die Ursachen auf die Sie reagieren müssen und deshalb auch nicht die Reaktionen in ihrem Verhalten. Diese Konsequenzen verändern Sie jedoch permanent. Ein Beispiel: Wenn Sie ein Kind großziehen, dann fällt Ihnen sein Größenwachstum kaum auf. Es wird langsam und somit für Sie nicht erkennbar größer. Wenn dann Tante Erna einmal im Jahr zu Besuch kommt, wird sie ausrufen: „Junge, was bist du groß geworden.“ Und dann werden Sie plötzlich ein verändertes Bewusstsein für das Wachstum Ihres Kindes feststellen. Ebenso ist es mit Ihrer Psyche und sogenannten kognitiven Dysfunktionen. Sie verändern sich so langsam und schleichen sich so leise ein, dass es Ihnen nicht bewusst wird. Deshalb hier ein erster Fragenkatalog, der Sie zu einer ersten Introspektion führt: - Konnten Sie in Ihrer Kindheit Ihre Eltern beeinflussen oder sie zu bestimmten Handlungen bewegen? - Gab es Zeiten, in denen Sie vollkommen die Kontrolle über Ihr Leben verloren habe? - Hatten Sie Interesse daran, das Leben in Ihrer Herkunftsfamilie aktiv mitzugestalten? - Können Sie sich heute durchsetzen? - Haben Sie Angst vor einer Niederlage in einem Streit? - Haben Sie Angst vor der Bewertung durch Andere? - Sind Sie grundsätzlich fähig, Menschen nach Ihrem Willen zu beeinflussen? - Wurden Sie als Kind von Ihren Eltern bestraft? - Hatten Sie Möglichkeiten, die Bestrafungen zu beeinflussen, ihnen vielleicht sogar zu entkommen? - Haben Sie Erlebnisse gehabt, in denen Sie hilflos waren? Das können durchaus Situationen sein, über die Sie heute lachen (Heimweh auf der Klassenfahrt, Verlust des Teddybären). Versuchen Sie immer die Sicht des kleinen Kindes einzunehmen. - Hatten Sie familiäre (Mit-) Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber den Eltern und großen Geschwistern? - Hatte jemals irgendjemand Macht über Sie, deren Sie nur schwer entkommen konnten? - Waren Sie „Machtspielchen“ ausgesetzt? - Haben/Hatten Sie Macht oder Kontrolle über Andere ausgeübt? Im Folgenden biete ich Ihnen schon einmal vier Ansätze an, bei denen Sie eine sogenannte Introspektion für sich alleine ausprobieren können. Im Laufe des Seminars werden wir gemeinsam darauf zurückkommen.  Introspektion Erkennen der eigenen Hilflosigkeit Ansatz 1 > Glück oder Unvermögen? Menschen, die Hilflosigkeit erfahren mussten, tendieren dazu, eigene Misserfolge internal zu erklären. („Meine Erfolgslosigkeit ist meinem Unvermögen geschuldet“). Haben sie hingegen Erfolg, so schreiben sie diesen externalen Gründen zu. („Da habe ich einfach nur Glück gehabt“). Dadurch löschen sie jeden positiven Verstärker, der sie aus ihrer Emp-findung, keine Kontrolle über die Angelegenheiten in ihrem Leben zu haben, befreien könnten. Gleichzeitig verfestigen sie den negativen Attributionsstil, unfähig zu sein. Scito te ipsum – Erkenne dich selbst Was denken SIE? 1. Prüfen Sie intensiv, wann Sie in letzter Zeit Erfolg hatten, unabhängig von dem Gedanken, warum Sie diesen Erfolg hatten. 2. Schreiben Sie diese Erfolge auf einen Zettel – und suchen Sie erst einmal weiter. 3. Intensivieren Sie diese Suche. Bedenken Sie, dass Sie gegen einen womöglich sehr tief sitzenden Attributionsstil ankämpfen müssen. 4. Vertiefen Sie den Gedanken, dass Ihre Erfolge auch internal zu begründen sind. 5. Machen Sie sich mit diesem Gedanken „vertraut“ 6. Suchen Sie nach Gründen, nach denen Ihre Erfolge auch internal zu erklären sind. 7. Wenn Sie - was sicherlich nur grob möglich ist - in Ihrer Vergangenheit ausreichend geforscht haben, konzentrieren Sie sich nun auf die Gegenwart. 8. Kontrollieren Sie sich jeden Abend hinsichtlich der Aufgabe in 1. 9. Prüfen Sie, wie viel in IHRER Macht steht, Dinge zu bewirken und zu beeinflussen. Erst wenn Sie sich BEWIESEN haben, dass Sie an einer Situation nichts ändern können, können Sie die Situation so hinnehmen.  Ansatz 2 > Verallgemeinern + Globalisieren Ja, es gibt Situationen, in denen Sie durch Unvermögen einen Misserfolg verschuldet haben. Kein Mensch ist perfekt. Aber der negativ geprägte, sich hilflos fühlende Mensch, neigt nun dazu, diesen Misserfolg zu verallgemeinern. Hat er z.B. einen Mathetest verhauen, überträgt er diesen Misserfolg auf alle anderen Schulfächer. Ist er bei einem Aufnahmetest zur Uni durchgefallen, gibt er komplett den Wunsch auf, studieren zu wollen. Diese Tendenz zur Verallgemeinerung kann und muss durchbrochen werden. Scito te ipsum – Erkenne dich selbst Was denken SIE? 1. Prüfen Sie sich, ob Sie diesem Fehler unterliegen. 2. Differenzieren Sie Ihre Misserfolge. 3. Beschränken Sie jede Bewertung eines Misserfolges ganz spezifisch auf das tatsächliche Feld und globalisieren Sie diesen nicht. 4. Versuchen Sie sich zu „Überführen“, welche Bereiche Sie negativ einschätzen, obwohl Sie dahingehend noch keine negativen Erfahrungen gemacht haben. Ansatz 3 > Umfeld Irvin Brown machte eine interessante Untersuchung. Er ließ Studenten, die einen Test schreiben sollten, in einem kleinen Raum warten. In diesem Raum saß ebenfalls ein junger Mann, der ständig enttäuscht vor sich hinmurmelt, wie schwer der Test war, wie wenig Chancen er hatte, diesen Test zu bestehen, wie sinnlos dieses ganze Studium sei. Er tauschte sich zusätzlich darüber mit einem Sitznachbar aus, der ähnliche Gedanken formulierte. Die Leistungen der anderen wartenden Studenten im nachfolgenden Test waren überdurchschnittlich schlecht. Nachdem der Versuchsablauf dargelegt wurde, berichteten alle davon, durch die Gespräche der beiden Studenten negativ beeinflusst worden zu sein. Sie fühlten sich hilfloser, demoralisiert und empfanden weniger Kontrollmöglichkeiten.   Scito te ipsum – Erkenne dich selbst. Was denken SIE? 1. Überprüfen Sie Ihr Umfeld auf Menschen, die Sie negativ beeinflussen. 2. Versuchen Sie diese Menschen umzustimmen. 3. Wenn dies nicht gelingt, bitten Sie diese Menschen, Ihren negativen Einfluss - zumindest bei Ihnen - zu unterlassen. 4. Wenn dies nicht gelingt, überprüfen Sie, ob Sie diese Menschen meiden können (und wollen). Ansatz 4 > Der eigene Bereich Analysieren Sie Ihren persönlichen Bereich. Dieser prägt Sie mehr als alle anderen Berei-che Ihres Lebens. Ausgehend vom privaten System erweitern Sie dann Ihre Analysen auf die Arbeitswelt und andere prägende Systeme Ihres Lebens. Scito te ipsum – Erkenne Dich selbst. Was denken SIE? 1. In welchem Bereich Ihres Lebens haben Sie wenig oder keine Kontrolle: 2. Muss das so sein? 3. Wie können Sie es ändern? 4. Wenn Sie es nicht ändern können > können Sie sich wenigstens den Grund für die unmögliche Kontrolle plausibel erklären, ohne sie an sich selbst festzumachen? Prüfen Sie sich genau. Denken Sie daran, dass sie alte Denkstrukturen aufbrechen und Traditionen in Frage stellen müssen. Hier ein paar Darstellungen von Teilnehmern aus den letzten Seminaren, die Sie zu eigenen Ideen bringen könnten: - Meine Schwiegermutter greift zu sehr in mein Leben ein. - Ich lasse mir von meinen Kindern zu viel gefallen. - Meine finanziellen Möglichkeiten lassen es nicht zu, dass ich mich entwickeln kann. - Mein Gesundheitszustand (oder der meiner Eltern) schränken mich sehr ein. - Ich bin zu alt, um neu anzufangen.
von Claus Scheitler 23. April 2020
Lesezeit 15 min. / Anspruch: mittel / Rubrik: Technik der Psychotherapie Selbstlimitierende Glaubenssätze Ein Glaubenssatz ist eine Überzeugung, die eine Person von sich hat. Ein selbstlimitierender Glaubenssatz hingegen ist eine Überzeug, mittels derer wir die Grenzen (Limit) unserer eigenen Möglichkeiten festlegen. Fast immer geschieht dies weit unterhalb unserer tatsächlichen Möglichkeiten. Dies kann klar inhaltlich sein (Ich bin hässlich > Ich limitiere mein Selbstbewusstsein und die Freude darüber, ein schöner Mensch zu sein) oder tendenziell (Ich kann das nicht, Man versteht mich nicht > Ich limitiere prinzipiell eine meiner Charaktereigenschaften oder Fähigkeiten) Also benötigen wir eine Abgrenzung zwischen Glaubenssätzen und selbstlimitierenden Glaubenssätzen. Um den Unterschied darzustellen, hier ein Beispiel: Ich habe einen Freund, der ist – im Gegensatz zu mir – sehr sportlich. Wenn dieser jetzt zu mir sagen würde: „Du, Claus, hättest Du Lust, mit mir zusammen eine Alpenüberquerung zu radeln?“, dann würde ich antworten: „Nein, das kann ich nicht.“ Und das wäre ein Glaubenssatz – aber es wäre kein Selbstlimitierender, da er eine geprüfte Darstellung meiner Grenzen wäre. Denn wenn ich am oberen Ende einer Treppe ankomme und erst einmal innehalten muss, um Luft zu holen, dann habe ich eine aussagefähige Rückmeldung hinsichtlich der Frage, ob ich in der Lage bin, mit dem Fahrrad über die Alpen zu radeln. Wenn ich dann diagnostiziere, dass ich das nicht schaffen werde, dann limitiere ich mich nicht selbst, sondern ich schätze mich, unter Heranziehung von echten Erfahrungen, richtig ein. Und das ist gut so, denn wenn ich auf die Frage meines Freundes geantwortet hätte: „Eine Alpenüberquerung, Super! Ich bin dabei!“, dann hätten wir beide uns Urlaub genommen, neue Räder gekauft, mehrere Abende die Route geplant und dann hätte ich am Abreisetag nach 20 Kilometern schlapp gemacht. Deshalb war dieser Glaubenssatz richtig. Aber oft denken wir fälschlicherweise, dass wir uns mit unseren selbstlimitierenden Ansichten richtig einschätzen. Wie entstehen diese falschen Überzeugungen, die uns weit unterhalb unserer tatsächlichen Möglichkeiten limitieren? Auch dazu ein Beispiel anhand der vierzehnjährigen Julia. Vierzehnjährige pubertierende Mädchen haben eigentlich fast immer ein Problem mit ihrem Aussehen. Hier ein Pickel, da fettige Haare, eine glänzende Stirn, zu dünne Lippen, zu kleine Augen. Es gibt immer etwas, dass sie an sich nicht gut finden und deshalb dahingehend sehr verletzlich sind. Julia sitzt nun am Ende eines langen Tages im Esszimmer beim Abendessen. Sie war den ganzen Tag unterwegs, hatte Sport und wenig gegessen. Deshalb freut sie sich nun auf die Lasagne und lädt sich den Teller voll. Während sie isst, kommentiert der Vater: „Na, heute haust du ja ganz schön rein.“ Er meinte es nicht böse, alle lachen - aber trotzdem setzt diese erste Bemerkung einen ersten Schlag in eine Gedächtnis-Kerbe. Julias kleiner Bruder schnappt Papas Bemerkung auf und beim Tisch abräumen ruft er seiner Schwester „Pummelchen“ nach. Ein zweiter Hieb vertieft die Kerbe. Da der Bruder das Wort „Pummelchen“ sehr lustig findet, wiederholt er es noch fünf Mal an diesem Abend. Fünf weitere Schläge vertiefen die Kerbe. Zwei Tage später geht Julia mit ihrer Freundin Rebecca in den MacDonalds. Dort haut Rebecca ein weiteres Mal in die Kerbe, indem sie sagt: „Boah, wie schaffst du nur den zweiten Burger, Respekt“ Weitere zwei Tage später steht Julia in der Umkleidekabine einer Boutique und stellt fest, dass sie keine 34 mehr hat, sondern eine 36. Nun hält sie sich für dick. Dass sie in den letzten vier Monaten fünf Zentimeter gewachsen ist und deshalb nicht mehr in eine 34 passt, diese Realität nimmt sie nicht mehr wahr. Denn in ihrem Kopf ist bereits die Datenautobahn „Du bist dick“ geschaffen worden. Und da nun noch ein scheinbarer Beweis dazu kommt, denn auf dem Etikett prangt überdeutlich die 36, entsteht ein selbstlimitierender Glaubenssatz. Nun mag man sich fragen, warum die Psyche so schnell dazu bereit ist, uns unterhalb unserer tatsächlichen Möglichkeiten zu limitieren. Der Grund steckt hinter dem, was Psychologen die „Enttäuschungsprophylaxe“ nennen. Ein Überlebenspessimismus der uns dazu bringt, eine Angelegenheit oder eine Prognose schlechter zu bewerten als sie eigentlich ist. Denn dadurch erreicht das Gehirn, dass wir aufmerksamer sind, dass wir kreativer an der Lösung eines Problems arbeiten, dass wir uns intensiver mit der Angelegenheit beschäftigen. Dies ist aber ein Mechanismus, der vor 6000 Jahren hilfreich war, als wir den Gefahren unserer Umgebung direkter ausgesetzt waren, als wir es heute sind. Eine Fehleinschätzung, eine falsche Entscheidung, konnte damals leicht das Leben kosten. Und bis vor relativ wenigen Jahren war dieser Mechanismus auch noch sinnvoll. In den letzten 100 Jahren sind jedoch die gravierendsten Veränderungen der Menschheitsgeschichte eingetreten und der archaische Mechanismus hat seine Sinnhaftigkeit verloren. Da er nicht auf die veränderte Welt reagiert hat, ist er ein unzeitgemäßer und am Bedarf vorbeigehender Ballast. Der Überlebens-Pessimismus unserer Vorfahren erleichtert uns somit nicht das Leben sondern - im Gegenteil - er erschwert es uns zusätzlich.
von Claus Scheitler 11. April 2020
20 / +++ / Tech. Einführung in die Mental-Technik der Affirmation Hallo und guten Tag, heute möchte ich Ihnen einige Gedanken zum Thema "Affirmationen" vorstellen. Dieser Begriff beschreibt eine Mental-Technik, mittels derer Sie sich eine positive Grundstimmung geben können. Kern der Technik ist die Erkenntnis, dass es nicht wichtig ist, wie unser Leben beschaffen ist, sondern wichtig ist lediglich, wie wir dieses Leben bewerten. Wie uns Situationen beeinflussen, hängt davon ab, wie wir diese Situationen beurteilen. Der Grund, warum unterschiedliche Menschen die gleiche Situation unterschiedlich bewerten, liegt an den Gedanken, die sie beim Erleben der Situation denken. Derjenige, der den Unbillen des Lebens mit Selbstvertrauen und Optimismus begegnet, erträgt, verarbeitet und löst Probleme völlig anders als der, der diesen verzagt und pessimistisch entgegentritt. Wie Marc Aurel schon vor fast 1900 Jahren feststellte, ist der Mensch in der Lage, über seine Gedanken den emotionalen Rahmen seines Lebens festzulegen und zu verändern. Denn Gedanken schaffen Gefühle und diese wiederum bedingen die Qualität des Lebens. So einfach dies bislang geklungen hat, so einfach ist es auch. Allerdings erst dann, wenn das Vertrauen in – und die Reproduzierbarkeit von – positiven Gedanken erlernt worden ist. Werkzeug und Anwendung ist hierbei die Affirmation. Diese mentale Technik möchte ich Ihnen hier und heute vorstellen.
von Claus Scheitler 10. April 2020
Hallo und guten Tag, heute präsentiere ich mich Ihnen einmal als Geschichtenerzähler. Ich erzähle Ihnen die Geschichte von der Frau in der Straßenbahn. Ich habe die Geschichte erfunden und sie extra drastisch geschrieben, damit sie tatsächlich auch wirkt. Sie soll nämlich abschrecken und Ihnen bewusst machen, wie eine Kleinigkeit ein Leben zum Scheitern bringen kann: Die Geschichte von der Frau in der Straßenbahn An dem Morgen, an dem es zu dem kleinen Zwischenfall in der Straßenbahn kam, stieg Frau M mit einem leichten "Kater" aus dem Bett. Am Abend zuvor hatte sie mit ein paar Arbeitskollegen Ihre Beförderung zur Hauptabteilungsleiterin gefeiert. Frau M sprang trotzdem fröhlich unter die Dusche, freute sie sich doch auf den vor ihr liegenden Tag. Frau M war Ende dreißig, überzeugte Junggesellin und teilte Ihre geräumige 8-Zimmerwohnung nur mit einem Kanarienvogel und Maxim, ihrem Rauhaardackel. Als Frau M die Wohnungstür hinter sich zuzog, grollte ihr Magen und beschwerte sich über das ausgelassene Frühstück. Doch da sie gerade heute zeitig im Büro ankommen wollte, hatte sie nur eine Tasse Kaffee getrunken und dabei die Nachrichten gehört. Jetzt beeilte sie sich, die kurze Strecke zur Haltestelle zurückzulegen und kam gerade rechtzeitig an, als die Straßenbahn vor ihr zum Stehen kam. Die Bahn war wie immer überfüllt, doch Frau M war eine durch und durch gesunde Sportlerin, die sich sowieso lieber einen Stehplatz am Fenster suchte, als eingequetscht neben fremden Menschen zu sitzen. Eine Haltestelle vor ihrem Büro schwindelte es Frau M ein wenig. Der leere Magen, der kurze Schlaf, der hektisch heruntergestürzte Kaffee und die Aufregung vor dem was heute vor ihr lag, hatten ihren Kreislauf angegriffen. Frau M umschloss die Halteschlaufe fester und atmete tief ein, doch es half ihr nichts mehr. Mit einem leisen Stöhnen rutschte sie zwischen den anderen Fahrgästen auf den Boden. Sofort bildete sich ein kleiner Kreis um sie. Hilfreiche Passagiere hoben sie auf eine Bank und der Fahrer wurde über den Vorfall informiert. Die Straßenbahn stoppte und nur wenige Minuten später fand sich Frau M in einem Krankenwagen wieder. Der freundliche Sanitäter musste wenig machen, denn Frau M war noch vor seiner Ankunft wieder auf den Beinen gewesen. Doch all das war ihr trotzdem sehr peinlich. Noch immer stand die Straßenbahn neben dem Krankenwagen und inzwischen hatten sich drei weitere Züge hinter ihr gestaut. Hunderte Menschen beobachteten aus den Waggons heraus das Geschehen. Sie gafften, fotografierten mit ihren Smartphones und diskutierten ersichtlich mit ihren Nebenmännern den Vorfall. Frau M wäre gerne wieder eingestiegen, doch Sie traute sie sich nicht mehr. Ihr Büro war sowieso keine 500 Meter mehr entfernt. Sie wollte sich gerade von den Sanitätern verabschieden, als diese intervenierten. Heute dürfe Frau M nicht mehr arbeiten, sie habe eine leichte Gehirnerschütterung und wenn sie nicht bereit wäre mit ihnen zur Beobachtung in ein Krankenhaus zu fahren, so müsse sie sich zumindest ein Taxi rufen, welches sie nach Hause bringe. Sie schaute sich um, sah die aufgestauten Straßenbahnen, den Krankenwagen, sah in die gaffenden Gesichter der Menschen und wollte nur noch eines: Weg von diesem Ort! Der Taxistand war nur wenige Meter entfernt und als Frau M endlich nach Hause fahren konnte, atmete sie erleichtert auf. In ihrer Wohnung angekommen, legte sie sich in ihr Bett und schlief bis zum späten Nachmittag. Bei einer Tasse Tee dachte sie über das Geschehene nach. Vor ihr tauchten die Bilder des Vormittages auf. Vor allem die gaffenden Gesichter, die sich um ihre eigene Hilflosigkeit gruppierten, brannten sich immer tiefer in ihrer Seele ein. Frau M trat an ihr Wohnzimmerfenster und blickte auf die Straße herab. Unten standen Menschen und diskutierten heftig. Autos fuhren langsam an ihrem Haus vorbei. Plötzlich ein schrilles Lachen, heftiges Gestikulieren und einer aus der Gruppe schaute zum Fenster von Frau M hinauf. Sie prallte zurück und zog hastig die Vorhänge zu. In ihrer Wohnung war es still, nur eine Uhr tickte leise. Sie setzte sich in ihren alten Lieblingssessel und schlug sich eine Decke um die Beine. Jetzt ging es ihr besser. Frau M horchte in die Stille hinein, atmete tief durch und schlief ein. Sie erwachte in tiefer Nacht. Die Straße war menschenleer. Nur vor dem Dönerstand an der Ecke standen zwei Männer, Frau M trat vom Fenster zurück. Sie ging in die Küche und bereitete sich einen Tee. Eine bleierne Müdigkeit hatte sich in ihrem Körper breitgemacht. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, warum dieser kleine Zwischenfall sie dermaßen aus der Bahn geworfen hatte. Alle Menschen, die direkt beteiligt waren, hatten sich sehr liebevoll und nachsichtig um sie gekümmert. Nichts wirklich Schlimmes war geschehen und doch fühlte sie tief in ihrem Inneren ein Gefühl von Angst. Angst vor dem morgigen Tag. Wie würde sie diesen bewältigen können? Sollte sie sich krankschreiben lassen? Der Sanitäter hatte sie gedrängt zum Arzt zu gehen. Aber wie würde dies bei ihren neuen Mitarbeitern ankommen? Bei ihrem neuen Chef? Frau M plante den kommenden Tag. Sie wollte früher aufstehen. Sie würde ausgiebig frühstücken und danach eine noch leere Straßenbahn nehmen, dann würde alles einfacher werden. Sie zog sich um und ging zu Bett. Doch sie fand keinen Schlaf. Sie warf sich stundenlang in ihrem Bett herum und grübelte über ihr Leben nach. Als der Morgen graute und der Wecker klingelte, stand sie auf, ohne auch nur ein Auge geschlossen zu haben. Die Fahrt in der Straßenbahn war beklemmend. Frau M fühlte sich beobachtet. Bei der Einfahrt der Bahn in die Haltestelle hatte sie ein Lächeln auf den Lippen des Fahrers bemerkt. Sicherlich hatte der Vorfall in der Kantine der Stadtwerke seine Runde gemacht. Frau M zögerte einzusteigen, doch ihre neue Stellung in der Firma würde eine solche Schwäche nicht zulassen. Jetzt pochte ihr Herz und sie spürte seine hastigen Schläge in ihrem Hals. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie zitterte und fühlte sich ebenso flau wie am gestrigen Morgen. Doch heute konnte Frau M sitzen. Sie saß ganz alleine in einer fast leeren Straßenbahn. Kein Mensch war in ihrer Nähe. Und doch entschied sie, noch heute Nachmittag ihr altes Fahrrad aus dem Keller zu holen. In Zukunft würde sie ins Büro radeln, dies würde ihrer Gesundheit sowieso besser tun. Als sie das Foyer ihrer Firma durchschritten hatte, traf sie am Aufzug ihren neuen Chef. Er war bereits über den gestrigen Vorfall informiert worden und erkundigte sich ernstlich besorgt über den Gesundheitszustand seiner neuen Mitarbeiterin. Frau M log ein wenig und ihr Chef nickte zufrieden. In diesem Moment öffnete sich die Aufzugstür und die Beine von Frau M wurden schwer wie Blei. Auf keinen Fall wollte sie in diesen kleinen Raum hineingehen, der sich hinter ihr schließen würde, doch ihr Chef erwartete sie bereits darin. Frau M schleppte sich die drei Schritte in die Kabine und erlebte die – bis dahin – schlimmsten zwanzig Sekunden ihres Lebens. Die Tage vergingen und mit ihnen verschlimmerte sich ihr Zustand. Sie fühlte sich durchgehend müde und schwindlig, niedergeschlagen und leer. Wann immer es ging, vermied sie den Kontakt zu Menschen. Inzwischen ging sie nur noch einmal in der Woche zum Einkaufen. Sie hatte eine Großmarkt Karte und wusste, dass sich dienstags kurz vor Ladenschluss die wenigen Besucher in den riesigen Hallen des Marktes verteilten. Dann huschte sie durch die Gassen und füllte ihren Einkaufswagen. Mit Maxim ging sie nur noch nach Mitternacht auf die Straße. Dann hatte auch der Dönerladen an der Ecke geschlossen. Vom freitäglichen Zumba hatte sie sich ebenso abgemeldet wie von ihrem Golftraining. Frau M entdeckte immer mehr Möglichkeiten, Situationen aus dem Weg gehen zu können, in denen ihr etwas Peinliches geschehen könnte. Ein Großteil ihres Geldes gab sie nun für Lieferdienste aus. Sie bestellte den Pizzaboten, ließ sich den Döner aus der Bude gegenüber hochbringen oder rief das China-Taxi. Als ihr das Prospekt eines Lebensmittelmarktes in die Hand viel, der ihr anbot, sämtliche Einkäufe online zu bestellen und nach Hause bringen zu lassen, verschwand die Metro Karte in der Schublade. Auch bei ihrer Arbeit drang sie auf Veränderungen. Immer wieder hatte sie versucht, ihrem Chef die Vorteile eines Homeoffice schmackhaft zu machen. Doch Frau M war als Führungskraft befördert worden und führen konnte sie nicht aus ihrem Wohnzimmer heraus. Vier Monate nach dem Zwischenfall in der Straßenbahn rief sie ihren Hausarzt an und bat um einen Hausbesuch. Er gab ihr ein Beruhigungsmittel und schrieb sie zwei Wochen krank. Erst als Frau M das Attest in ihren Händen hielt, fühlte sie zum ersten Mal nach über einem halben Jahr eine Ruhe in ihrem Kopf. Sie betrachtete den Zettel und Tränen stiegen in ihre Augen – Frau M betrat nie wieder in ihrem Leben das Gebäude ihres Arbeitgebers. In der darauffolgenden Nacht fuhr sie mit ihrem Wagen 130 Kilometer zu einem Tierheim und band Maxim an das Eingangstor. In ihrem Kopf gab es nur noch den Gedanken, wie sie den Kontakt zu Menschen vermeiden konnte. Die ganze Fahrt zurück überlegte sie, wie sie das Problem des Benzintankens lösen könnte. Denn Frau M war noch nicht soweit, dass sie ihre Wohnung nie mehr verlassen wollte. Sie liebte es, nachts durch die Weinberge zu fahren oder am Ufer des Rheins zu sitzen und den Passagierschiffen nachzuschauen. Sie erfreute sich durchaus daran durch das Watt zu waten oder auf Berge zu steigen. Doch sie tat dies nur nachts oder wenn ein Unwetter andere Menschen in ihre gemütlichen Wohnzimmer flüchten ließ. Frau M löste ihr Problem, in dem Sie zum Tanken in der nahgelegenen Großstadt einen 24h-Tankautomaten aufsuchte. Endlich kam Frau M zur Ruhe. Sie lebte in ihrer Wohnung und war zufrieden. Sie war es tatsächlich, denn sie hatte nicht bemerkt, dass sie kein normales Leben mehr führte. Sie fand, dass ihre Art zu leben die einzig richtige sei und dass die anderen Menschen, die sie durch die Scheiben ihrer Fenster beobachtete, ein falsches, ein qualvolles Leben führten. Sie hatte keine Angst vor diesen Menschen, wenn sie weit genug von ihr getrennt waren, im Gegenteil. Frau M beobachtete sie häufig, sie lernte ihre Gewohnheiten kennen und erfreute sie daran, das Tun ihrer Nachbarn vorherzusagen. Herr Kaiser, der einmal um sein Auto lief, bevor er es aufschloss und einstieg. Frau Käffer, die ihren Hund immer neben der Telefonzelle sein Geschäft verrichten ließ. Das Schulmädchen, das ihr Pausenbrot immer in den Mülleimer warf. Frau M mochte die Menschen – wollte aber Keinem begegnen. Doch auch dies änderte sich. Mit der Zeit kamen die Zweifel. Immer wieder bemerkte sie, dass die Menschen auf der Straße verstohlene Blicke die Fassade hinauf zu ihren Fenstern warfen. Durch den Spion in ihrer Haustür kontrollierte sie das Treppenhaus und auch hier bemerkte sie ein auffälliges Verhalten ihre Nachbarn. Frau Käffer lachte stets, wenn sie an der Tür von Frau M vorbeikam und auch Herr Preis räusperte sich immer, wenn er auf dem Treppenabsatz stand. Frau M war sich sicher, dass sich die Menschen gegen sie verschworen hat-ten. Irgendetwas hatten sie vor und es war nichts Gutes, dessen war sie sich sicher. Und dann kam der Vorfall mit ihrem Auto, der sie in ihrem Verdacht bestätigte. Eines Morgens wachte Frau M durch ein lautes Fiepen vor ihrem Haus auf. Sie trat hinter die Vorhänge ihres Wohnzimmers und musste sehen, wie ihr geliebtes Auto durch die Luft auf einen Abschleppwagen gehoben wurde. Ja, sie wusste, dass der TÜV schon lange abgelaufen war und ein roter runder Aufkleber schon seit einigen Wochen an der Windschutzscheibe klebte. Doch sie hatte die Notwendigkeit verdrängt, ihr Auto überprüfen zu lassen und hoffte, dass einfach nichts geschehen würde. Doch jetzt war ihr Auto weg – und Frau M würde niemals wieder ihre Wohnung verlassen. Sie erschien nicht auf der Beerdigung ihres Vaters, sie ging nicht mehr zum Arzt, sie schnitt sich ihre Haare selbst und reparierte einen Rohrbruch mit einhundert Meter Klebeband. Die Post schob ihr ein Nachbarjunge unter der Tür durch, der gleichzeitig auch den Müll mitnahm, den Frau M vor ihrer Eingangstür deponierte. Für die 50 Euro, die Max pro Monat dafür bekam, erledigte er auch kleine Aufträge, die Frau M auf bunte Klebesticker schrieb, die sie am Boden der Mülltüten befestigte. Alles war geregelt, alles konnte seinen Gang gehen. Frau M starb im Alter von 43 Jahren an einer Blinddarmentzündung. Sechs Wochen nach ihrem Tod brach die Feuerwehr die Tür zu ihrer Wohnung auf und fand sie verwesend in ihrem Bett liegen. Diagnose: Frau M erlebte in Folge des geschilderten Kollapses in der Straßenbahn eine vitale Bedrohungs-/Belastungssituation (Typ-I-Trauma) (ICD-10: F 43.0), definiert als unerwartete, intensiv erlebte körperliche und / oder seelische Bedrohung. Im günstigen Fall klingt die aktuelle Symptomatik, die sich in Angst, Unruhe, Regression, Erregtheit, Verzweiflung und Apathie manifestieren kann, nach einigen Tagen ab. Abgetrennt von der körperlichen Bedrohung durchlebte Frau M eine ihr extrem unangenehme Situation der - von vielen Menschen beobachteten - Hilflosigkeit. In der folgenden Depressiven Reaktion (ICD-10: F 43.20) durchlebte Frau M gedanklich die Bedrohungssituation immer wieder, sie setzte sich ihr somit immer wieder aus, kultivierte sie und es entwickelte sich aus der akuten Belastungssituation ein Quasi-Typ-II-Trauma. Dieses zieht häufig eine schleichende Bewusstseinsveränderung nach sich. Bei Frau M führte diese zu einer tiefgreifenden Veränderung der gesamten Persönlichkeit mit den Symptomen chronische Depressivität, Anhedonie, Ängstlichkeit, Leistungsverlust, verminderte Belastbarkeit und vegetative Störungen. Da der Auslöser der Persönlichkeitsveränderungen ein singuläres und wenig intensives Ereignis war, ist das Ausmaß und der weitere Verlauf der psychopathologischen Auffälligkeiten ungewöhnlich heftig, jedoch nachvollziehbar. Grund für die Entwicklung der Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1) ist, wie gesagt, einerseits die regelmäßige gedankliche Repetierung des Vorfalls. Auf der anderen Seite schien bei Frau M eine prädisponierende Vulnerabilität vor-handen zu sein und sie verfügte über wenige abrufbare Coping-Skills bzw. Ressourcen. Sie erschien emotional instabil und zu hoher Sensitivität und Psychasthenie zu neigen. Kurz gesagt, verfügte sie nicht über ausreichend ausgeprägte Resilienzen. Therapie: Bei Frau M wäre direkt nach der Belastungsreaktion eine behutsame Krisenintervention in Form eines „Talking down“ notwendig gewesen. Diese Ersthilfe hat der Sanitäter zwar ansatzweise getätigt, er war jedoch nicht in der Lage, im Rahmen seines Notfalldienstes dies in ausreichendem Maße zu leisten. Als Therapie der Wahl wäre in der Phase nach dem Unfall eine psychotherapeutische Intervention mit kathartischer Affektentlastung, stützenden Gesprächen, Traumabearbeitung und Psychodrama zu empfehlen gewesen. Die Intervention flankierend wäre eine Medikation mit Benzodiazepinen und / oder Schlafmedikationen angezeigt. Nach der Ausprägung zur Posttraumatischen Belastungsstörung wäre eine Behandlung mit einfachen therapeutischen Mitteln nicht mehr möglich gewesen. Jetzt müsste nach den kathartisch-stützenden Gesprächen zu anderen Therapieformen übergegangen werden (Konfliktzentrierte Einzeltherapie, Verhaltenstherapie mit Angstmanage-menttraining, später auch Konfrontationstherapie) Medikamentös wäre die Gabe von Antidepressiva möglich gewesen. Nach der Ausprägung zur manifesten chronifizierten Neurotischen Depression wäre eine ambulante Therapie nicht mehr ergebnisorientiert. Zumal in diesem Stadium das Compliance des Patienten, das heißt sein Wille zur Mitarbeit und das Bewusstsein, erkrankt zu sein, nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden wäre. Hier wäre eine stationäre Einweisung und eine längerfristige aufdeckende Psychotherapie notwendig gewesen. Zusammenfassung: Eine nichtige Kleinigkeit entwickelte eine Eigendynamik, die unkontrolliert ein Leben zum Scheitern brachte. Im Frühstadium ihrer sich entwickelnden Neurotischen Depression (ICD-10: F 34.1) wäre es einfach gewesen, Frau M zu helfen. Viele Menschen gehen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen. Hier eine Darmspiegelung, da ein großes Blutbild dort ein Belastungs-EKG. Doch bei der psychischen Gesundheit, wird häufig auf Vorsorgemaßnahmen verzichtet. Das kann, wie im geschilderten Fall, katastrophale Folgen haben. Bei Frau M wäre es eine kurze stützende Krisenintervention gewesen, welche die pathologische Entwicklung aufgehalten hätte. In der ersten Woche nach der Belastungssituation hätte diese Intervention mit zwei bis drei ambulanten Sitzungen erfolgreich geschehen können. Es hätte aber überhaupt nicht zu einer behandlungsnotwendigen Reaktion kommen müssen, wenn Frau M rechtzeitig ihre Coping-Ressourcen, ihre Vulnerabilität und ihre Resilienzen in Zusammenarbeit mit einem Therapeuten entwickelt und gestärkt hätte. Die Schulung und Ausbildung von psychischen Fertigkeiten, mit denen Krisen begegnet und überwunden werden können, ist eine sinnvolle Arbeit, die – wie im gezeigten Fall – lebensrettend sein kann. Darum ist es sinnvoll, zum Therapeuten zu gehen.
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